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edition:conrad:002

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-Sobald ich mit der Slavonierin allein war, führte sie mich auf den Dachboden, wo sie mir mein Bett zeigte, das in einer Reihe mit vier anderen stand; von diesen waren drei für drei Knaben meines Alters bestimmt, die in diesem Augenblick in der Schule waren; das vierte gehörte der Magd, die den Auftrag hatte aufzupassen, daß wir uns nicht den üblichen kleinen Schülerausschweifungen hingäben. Nach diesem Besuch gingen wir wieder hinunter, und sie führte mich in den Garten; dort könnte ich bis zum Mittagessen spazierengehen, sagte sie.+Sobald ich mit der [[glossary:slavonia|Slavonierin]] allein war, führte sie mich auf den Dachboden, wo sie mir mein Bett zeigte, das in einer Reihe mit vier anderen stand; von diesen waren drei für drei Knaben meines Alters bestimmt, die in diesem Augenblick in der Schule waren; das vierte gehörte der Magd, die den Auftrag hatte aufzupassen, daß wir uns nicht den üblichen kleinen Schülerausschweifungen hingäben. Nach diesem Besuch gingen wir wieder hinunter, und sie führte mich in den Garten; dort könnte ich bis zum Mittagessen spazierengehen, sagte sie.
 Ich war weder glücklich noch unglücklich; ich sagte kein Wort. Ich empfand gar nichts, weder Furcht, noch Hoffnung, noch Neugier; ich war weder lustig noch traurig. Anstößig war mir nur das Gesicht der Hausherrin; denn obwohl ich keinen Begriff von Schönheit oder Häßlichkeit hatte, so stieß mich doch alles an ihr ab: ihr Gesicht, der Ausdruck ihrer Miene, ihr Ton und ihre Sprache. Ihre männlichen Gesichtszüge brachten mich jedesmal in Verwirrung, so oft ich sie ansah, um zu hören, was sie mir sagte. Sie war groß und breit wie ein Soldat; sie hatte eine gelbe Hautfarbe, schwarze Haare, lange dichte Augenbrauen und ihr Kinn war mit etlichen langen Barthaaren geschmückt. Um dies Bildnis zu vervollständigen, will ich noch erwähnen, daß ein häßlicher, von Runzeln durchfurchter, halbentblößter Busen ihr bis zur Hälfte ihres langen Oberkörpers herabhing; sie mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Die Magd war eine dicke Bäuerin, die für alle Verrichtungen angenommen war, und der sogenannte Garten war ein Viereck von dreißig zu vierzig Schritt, an dem nichts Angenehmes war außer der grünen Farbe. Ich war weder glücklich noch unglücklich; ich sagte kein Wort. Ich empfand gar nichts, weder Furcht, noch Hoffnung, noch Neugier; ich war weder lustig noch traurig. Anstößig war mir nur das Gesicht der Hausherrin; denn obwohl ich keinen Begriff von Schönheit oder Häßlichkeit hatte, so stieß mich doch alles an ihr ab: ihr Gesicht, der Ausdruck ihrer Miene, ihr Ton und ihre Sprache. Ihre männlichen Gesichtszüge brachten mich jedesmal in Verwirrung, so oft ich sie ansah, um zu hören, was sie mir sagte. Sie war groß und breit wie ein Soldat; sie hatte eine gelbe Hautfarbe, schwarze Haare, lange dichte Augenbrauen und ihr Kinn war mit etlichen langen Barthaaren geschmückt. Um dies Bildnis zu vervollständigen, will ich noch erwähnen, daß ein häßlicher, von Runzeln durchfurchter, halbentblößter Busen ihr bis zur Hälfte ihres langen Oberkörpers herabhing; sie mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Die Magd war eine dicke Bäuerin, die für alle Verrichtungen angenommen war, und der sogenannte Garten war ein Viereck von dreißig zu vierzig Schritt, an dem nichts Angenehmes war außer der grünen Farbe.
  
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 In vier oder fünf Monaten machte ich so schnelle Fortschritte, daß der Doktor mich zum Dekurio der Schule ernannte. Ich hatte die Aufgaben meiner dreißig Mitschüler durchzusehen, ihre Fehler zu verbessern und dem Lehrer mit Lob oder Tadel Bericht zu erstatten. Meine Strenge dauerte aber nicht lange, denn die Faulpelze kamen bald hinter das Geheimnis, mich milde zu stimmen. Wenn ihr Latein von Fehlern wimmelte, gewannen sie meine Nachsicht mittels gebratener Rippchen oder Hühnchen; oft gaben sie mir sogar Geld. Dies erweckte meine Habgier oder vielmehr meine Leckerhaftigkeit; denn von nun an besteuerte ich nicht nur die Unwissenden, sondern ich wurde zum Tyrannen und weigerte mein Lob denen, die es verdienten, sobald sie sich's einfallen ließen, den von mir beanspruchten Zoll weigern zu wollen. Meine Ungerechtigkeit wurde ihnen unerträglich, und sie verklagten mich beim Lehrer, der mich absetzte, als er mich der Erpressung überführt sah. Nach dieser Absetzung wäre es mir gewiß sehr schlecht gegangen, wenn nicht das Schicksal bald nachher meiner grausamen Leidensschule ein Ende gemacht hätte. In vier oder fünf Monaten machte ich so schnelle Fortschritte, daß der Doktor mich zum Dekurio der Schule ernannte. Ich hatte die Aufgaben meiner dreißig Mitschüler durchzusehen, ihre Fehler zu verbessern und dem Lehrer mit Lob oder Tadel Bericht zu erstatten. Meine Strenge dauerte aber nicht lange, denn die Faulpelze kamen bald hinter das Geheimnis, mich milde zu stimmen. Wenn ihr Latein von Fehlern wimmelte, gewannen sie meine Nachsicht mittels gebratener Rippchen oder Hühnchen; oft gaben sie mir sogar Geld. Dies erweckte meine Habgier oder vielmehr meine Leckerhaftigkeit; denn von nun an besteuerte ich nicht nur die Unwissenden, sondern ich wurde zum Tyrannen und weigerte mein Lob denen, die es verdienten, sobald sie sich's einfallen ließen, den von mir beanspruchten Zoll weigern zu wollen. Meine Ungerechtigkeit wurde ihnen unerträglich, und sie verklagten mich beim Lehrer, der mich absetzte, als er mich der Erpressung überführt sah. Nach dieser Absetzung wäre es mir gewiß sehr schlecht gegangen, wenn nicht das Schicksal bald nachher meiner grausamen Leidensschule ein Ende gemacht hätte.
  
-Der Doktor, der mich lieb hatte, nahm mich eines Tages mit in sein Kabinett und fragte mich unter vier Augen, ob ich bereit sei, die Schritte zu tun, die er mir anraten wolle, um aus der Pension der Slavonierin herauszukommen und bei ihm einzutreten. Da er mich von seinem Vorschlag entzückt fand, ließ er mich drei Briefe abschreiben, die ich an den Abbate Grimani, an meinen Freund Baffo und an meine Großmutter sandte. Da das Halbjahr zu Ende ging und meine Mutter sich damals nicht in [[glossary:Venice|Venedig]] aufhielt, war keine Zeit zu verlieren. In diesen Briefen entwarf ich eine Schilderung aller meiner Leiden und erklärte, ich würde bald sterben, wenn man mich nicht aus den Händen der Slavonierin befreite und mich meinem Schullehrer übergäbe, der bereit wäre, mich bei sich aufzunehmen, dafür jedoch monatlich zwei Zechinen beanspruchte.+Der Doktor, der mich lieb hatte, nahm mich eines Tages mit in sein Kabinett und fragte mich unter vier Augen, ob ich bereit sei, die Schritte zu tun, die er mir anraten wolle, um aus der Pension der Slavonierin herauszukommen und bei ihm einzutreten. Da er mich von seinem Vorschlag entzückt fand, ließ er mich drei Briefe abschreiben, die ich an den Abbate [[glossary:Grimani|Grimani]], an meinen Freund [[glossary:Baffo|Baffo]] und an meine Großmutter sandte. Da das Halbjahr zu Ende ging und meine Mutter sich damals nicht in [[glossary:Venice|Venedig]] aufhielt, war keine Zeit zu verlieren. In diesen Briefen entwarf ich eine Schilderung aller meiner Leiden und erklärte, ich würde bald sterben, wenn man mich nicht aus den Händen der Slavonierin befreite und mich meinem Schullehrer übergäbe, der bereit wäre, mich bei sich aufzunehmen, dafür jedoch monatlich zwei Zechinen beanspruchte.
  
-Herr Grimani antwortete mir gar nicht, sondern ließ mich durch seinen Freund Ottaviani ausschelten, daß ich mich hätte verführen lassen. Herr Baffo aber ging zu meiner Großmutter, die nicht schreiben konnte, besprach die Sache mit ihr und meldete mir in einem Brief, in ein paar Tagen würde ich glücklich sein.+Herr Grimani antwortete mir gar nicht, sondern ließ mich durch seinen Freund [[glossary:Ottaviani|Ottaviani]] ausschelten, daß ich mich hätte verführen lassen. Herr Baffo aber ging zu meiner Großmutter, die nicht schreiben konnte, besprach die Sache mit ihr und meldete mir in einem Brief, in ein paar Tagen würde ich glücklich sein.
  
 Und wirklich kam acht Tage darauf die ausgezeichnete Frau, die mich bis an ihr Lebensende liebgehabt hat, nach Padua und zwar gerade in dem Augenblick, als ich mich zu Tisch setzen wollte, um zu Mittag zu essen. Sie trat mit der Hausfrau zusammen ins Zimmer und sobald ich sie erblickte, fiel ich ihr um den Hals und weinte strömende Tränen, in die sie sogleich auch die ihrigen mischte. Als sie dann saß und mich auf ihren Schoß genommen hatte, fühlte ich meinen Mut wieder erwachen und zählte ihr im Beisein der Slavonierin alle meine Qualen auf; nachdem ich ihr den Bettlertisch gezeigt hatte, an dem ich mich sattessen sollte, führte ich sie an mein Bett. Zum Schluß bat ich sie, sie möchte mich mit sich zum Essen nehmen, nachdem ich sechs Monate lang gehungert und geschmachtet hätte. Die Slavonierin ließ sich das nicht anfechten; sie sagte nur, mehr könnte sie für das Geld, das man ihr gäbe, nicht tun. Da hatte sie recht; aber wer zwang sie, ein Kosthaus zu halten, um die Kinder hinzumorden, die der Geiz ihr anvertraute und die doch der Nahrung bedurften? Und wirklich kam acht Tage darauf die ausgezeichnete Frau, die mich bis an ihr Lebensende liebgehabt hat, nach Padua und zwar gerade in dem Augenblick, als ich mich zu Tisch setzen wollte, um zu Mittag zu essen. Sie trat mit der Hausfrau zusammen ins Zimmer und sobald ich sie erblickte, fiel ich ihr um den Hals und weinte strömende Tränen, in die sie sogleich auch die ihrigen mischte. Als sie dann saß und mich auf ihren Schoß genommen hatte, fühlte ich meinen Mut wieder erwachen und zählte ihr im Beisein der Slavonierin alle meine Qualen auf; nachdem ich ihr den Bettlertisch gezeigt hatte, an dem ich mich sattessen sollte, führte ich sie an mein Bett. Zum Schluß bat ich sie, sie möchte mich mit sich zum Essen nehmen, nachdem ich sechs Monate lang gehungert und geschmachtet hätte. Die Slavonierin ließ sich das nicht anfechten; sie sagte nur, mehr könnte sie für das Geld, das man ihr gäbe, nicht tun. Da hatte sie recht; aber wer zwang sie, ein Kosthaus zu halten, um die Kinder hinzumorden, die der Geiz ihr anvertraute und die doch der Nahrung bedurften?
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 Am Abend kamen der Doktor und sein Vater zurück. Cordiani, meine Rache fürchtend, kam zu mir und fragte mich, was ich zu tun gedächte. Als er mich aber, das offene Messer in der Hand, auf sich zukommen sah, lief er eilends davon. Daran, dem Doktor die ärgerliche Geschichte zu erzählen, hatte ich gar nicht wieder gedacht; ein Plan dieser Art konnte in meinem Geist nur in einer augenblicklichen zornigen Aufwallung auftauchen. Am Abend kamen der Doktor und sein Vater zurück. Cordiani, meine Rache fürchtend, kam zu mir und fragte mich, was ich zu tun gedächte. Als er mich aber, das offene Messer in der Hand, auf sich zukommen sah, lief er eilends davon. Daran, dem Doktor die ärgerliche Geschichte zu erzählen, hatte ich gar nicht wieder gedacht; ein Plan dieser Art konnte in meinem Geist nur in einer augenblicklichen zornigen Aufwallung auftauchen.
  
-Am anderen Morgen unterbrach die Mutter uns während der Lehrstunde, um nach vielen Umschweifen dem Doktor zu sagen, sie glaube herausgebracht zu haben, was es mit der Krankheit ihrer Tochter auf sich habe. Diese sei von einer Hexe bezaubert, und sie kenne diese Hexe.+Am anderen Morgen unterbrach die Mutter uns während der Lehrstunde, um nach vielen Umschweifen dem Doktor zu sagen, sie glaube herausgebracht zu haben, was es mit der Krankheit ihrer Tochter auf sich habe. Diese sei von einer [[glossary:witchcraft|Hexe]] bezaubert, und sie kenne diese Hexe.
  
 »Das kann ja sein, liebe Mutter, aber man darf sich in solchen Sachen nicht täuschen. Wer ist die Hexe?« »Das kann ja sein, liebe Mutter, aber man darf sich in solchen Sachen nicht täuschen. Wer ist die Hexe?«
edition/conrad/002.1294606123.txt.gz · Last modified: 2011/01/09 21:48 by selfthinker